Chronik.Ereignis1036 Pilgerzug Cumrat 01: Unterschied zwischen den Versionen

Kanzler (Diskussion | Beiträge)
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Von Scheffelstein (Diskussion | Beiträge)
Keine Bearbeitungszusammenfassung
 
(5 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
'''Cumrat, 27. Praios 1036 BF'''
==[[Kaiserpfalz Cumrat]], 27. Praios 1036 BF==


Mit den ersten Strahlen des sich rötlich hinter den Bergen erhebenden Praiosrunds erwachte der Rabe mit einem müden Krächzen aus dem trockenen Geäst einer Pinie. Kaum eine Made hatte er zum Nachtmahl gefunden, und auch die Würmer hatten sich tief unter die ausgetrocknete Erdkruste verzogen. Sein Magen knurrte, dementsprechend übel gelaunt erhob er sich mit einigen behäbigen Flügelschlägen in die noch frische Morgenluft über der Zeltstadt. Noch einmal krächzte er, viermal, denn es war für die Pilger an der Zeit, den neuen Tag zu begrüßen.
'''Autor:''' [[Benutzer:Kanzler|kanzler]]
 
''Mit den ersten Strahlen des sich rötlich hinter den Bergen erhebenden Praiosrunds erwachte der Rabe mit einem müden Krächzen aus dem trockenen Geäst einer Pinie. Kaum eine Made hatte er zum Nachtmahl gefunden, und auch die Würmer hatten sich tief unter die ausgetrocknete Erdkruste verzogen. Sein Magen knurrte, dementsprechend übel gelaunt erhob er sich mit einigen behäbigen Flügelschlägen in die noch frische Morgenluft über der Zeltstadt. Noch einmal krächzte er, viermal, denn es war für die Pilger an der Zeit, den neuen Tag zu begrüßen.''
   
   
Der Rabe fand eine kleine Pfütze, die er skeptisch aus schwarzen Augen betrachtete. Er stiebte hinab, trapste mit leicht wackeligem Schritt auf das braune Nass und kostete vorsichtig. „Wein-Suppe“, empfand er. Diese mussten die Köche hier just ausgeschüttet haben, um im Kessel Platz für den Morgenbrei zu schaffen. Der Vogel wollte sich schon verächtlich von dem salzigen Etwas abwenden, als er eine köstlich in der Morgensonne schimmernde Traube halb aus der Pfütze lugen sah. Diese schnappte sich der Rabe, bevor ihm wohlmöglich irgendein Nager zuvorkam. Sie schmeckte süß und würzig und stimmte ihn versöhnlich.
''Der Rabe fand eine kleine Pfütze, die er skeptisch aus schwarzen Augen betrachtete. Er stiebte hinab, trapste mit leicht wackeligem Schritt auf das braune Nass und kostete vorsichtig. „Wein-Suppe“, empfand er. Diese mussten die Köche hier just ausgeschüttet haben, um im Kessel Platz für den Morgenbrei zu schaffen. Der Vogel wollte sich schon verächtlich von dem salzigen Etwas abwenden, als er eine köstlich in der Morgensonne schimmernde Traube halb aus der Pfütze lugen sah. Diese schnappte sich der Rabe, bevor ihm wohlmöglich irgendein Nager zuvorkam. Sie schmeckte süß und würzig und stimmte ihn versöhnlich.''
   
   
Derart gestärkt zupfte der Schwarze rasch sein durch die Nacht verlegenes Gefieder zu Recht und schwang sich mit nun kräftigeren Schlägen steil hinauf in luftige Höhen. Der Pilgerzug, den er im himmlischen Auftrag nun seit Ragath begleitet hatte, hatte Station in einem Pinienhain bezogen, und langsam regte sich Leben hinter den Leinen der Zeltstadt. Noch einmal krächzte das Federvieh, als wollte es diesen Vorgang beschleunigen. Ja, es war an der Zeit!
''Derart gestärkt zupfte der Schwarze rasch sein durch die Nacht verlegenes Gefieder zu Recht und schwang sich mit nun kräftigeren Schlägen steil hinauf in luftige Höhen. Der Pilgerzug, den er im himmlischen Auftrag nun seit Ragath begleitet hatte, hatte Station in einem Pinienhain bezogen, und langsam regte sich Leben hinter den Leinen der Zeltstadt. Noch einmal krächzte das Federvieh, als wollte es diesen Vorgang beschleunigen. Ja, es war an der Zeit!''
   
   
Noch ein paar Flügelschläge mehr, etwas Treibenlassen in der sanften almadanischen Brise und der Hain gab den Blick frei auf etwas Großartiges: den Berg Cumrat, der selbst dem ehrwürdigen Yaquirstrom trotzte, der einen weiten Bogen um den Felsen winden musste. Fahnen zierten die Feststraße zu dieser Erhebung, auf dem sich stolz und wehrhaft die kaiserliche Pfalz erhob. Wie eine kunstvolle Punipan-Kreation sah die Festung von hier oben aus. Der Rabe umkreiste die Anlage mit heftigen Flügelschlägen, umflog die sieben majestätisch in den Himmel aufragenden Türme, das Oktogon, die kaiserlichen Gärten und die Yaquirterrasse. Alles war herausgeputzt, alles war geschmückt und mit Girlanden und Wappenflaggen der Grafschaften, Städte, Baronien und Häuser Almadas verziert. Alles war bereit!
''Noch ein paar Flügelschläge mehr, etwas Treibenlassen in der sanften almadanischen Brise und der Hain gab den Blick frei auf etwas Großartiges: den Berg Cumrat, der selbst dem ehrwürdigen Yaquirstrom trotzte, der einen weiten Bogen um den Felsen winden musste. Fahnen zierten die Feststraße zu dieser Erhebung, auf dem sich stolz und wehrhaft die kaiserliche Pfalz erhob. Wie eine kunstvolle Punipan-Kreation sah die Festung von hier oben aus. Der Rabe umkreiste die Anlage mit heftigen Flügelschlägen, umflog die sieben majestätisch in den Himmel aufragenden Türme, das Oktogon, die kaiserlichen Gärten und die Yaquirterrasse. Alles war herausgeputzt, alles war geschmückt und mit Girlanden und Wappenflaggen der Grafschaften, Städte, Baronien und Häuser Almadas verziert. Alles war bereit!''
 
   
   
Fürst Gwain von Harmamund gähnte und erhob sich räkelnd aus seiner bescheidenen Bettstatt. Er brauchte dringend Bad und Rasur – und einen Cresso mit wenig Schmalz. Nicht zuviel des Guten, man war ja schließlich noch auf Pilgerei, und er wollte alle die Tage mit bestem Vorbild voran gehen. Doch heute war ein besonderer Tag. Er fühlte es, es juckte ihm förmlich in der Nase, wie einst, als er gen Omlad zog. "Achja, die Reconquista, die gute alte Zeit!" Eine Zeit des Zusammenhalts, der Ehre, der Loyalität. Diese Werte waren es, die Almada seit ehedem zusammen hielten. Diese Werte wollte er heute erneut heraufbeschwören, nach all der Zeit des Leidens, der Zwietracht, der Traurigkeit unter dem Blutkaiser. Er hatte sich besonnen – und endlich, so empfand er nun, nach langem Handern, vielfachem Gebet und ausschweifendem Dialog mit den Magnaten Alamdas, endlich hatte er sich mit seiner neuen Position angefreundet. Er fühlte sich in seiner neuen Rolle angekommen, der Rolle, die er wohl bis zu seinem Tode spielen würde: Er, Gwain Isonzo von Harmamund, der gefallene Fürstenspross und wieder auferstandene Held von Omlad, ist der Fürst Almadas. Seines geliebten Almadas.
Fürst Gwain von Harmamund gähnte und erhob sich räkelnd aus seiner bescheidenen Bettstatt. Er brauchte dringend Bad und Rasur – und einen Cresso mit wenig Schmalz. Nicht zuviel des Guten, man war ja schließlich noch auf Pilgerei, und er wollte alle die Tage mit bestem Vorbild voran gehen. Doch heute war ein besonderer Tag. Er fühlte es, es juckte ihm förmlich in der Nase, wie einst, als er gen Omlad zog. "Achja, die Reconquista, die gute alte Zeit!" Eine Zeit des Zusammenhalts, der Ehre, der Loyalität. Diese Werte waren es, die Almada seit ehedem zusammen hielten. Diese Werte wollte er heute erneut heraufbeschwören, nach all der Zeit des Leidens, der Zwietracht, der Traurigkeit unter dem Blutkaiser. Er hatte sich besonnen – und endlich, so empfand er nun, nach langem Handern, vielfachem Gebet und ausschweifendem Dialog mit den Magnaten Alamdas, endlich hatte er sich mit seiner neuen Position angefreundet. Er fühlte sich in seiner neuen Rolle angekommen, der Rolle, die er wohl bis zu seinem Tode spielen würde: Er, Gwain Isonzo von Harmamund, der gefallene Fürstenspross und wieder auferstandene Held von Omlad, ist der Fürst Almadas. Seines geliebten Almadas.
Zeile 18: Zeile 21:
   
   
Mit zwölf Schlägen auf den bronzenen Gong begann die Morgenandacht. „Zwei mal zwölfhunderttausend Schritt sind wir gezogen“, begann die Geweihte des Herre Ingerimm. „Den Zwölfen gefällig“, führte der Praiot fort. „Unerschüttert Dank der Kraft der Götter“, beschwor der Rondrageweihte. „Entlang des Onkelchen Yaquir, des ewigen Geistes Almadas“, schloss die Geweihte des Efferd. „Kniet nieder, denn Segen wird Euch erteilt!“ Wie eine Haltung nehmende Armee ließen sich die Gläubigen augenblicklich in den gelb-lehmigen Staub sinken, die Augen ehrfürchtig gen Himmel gerichtet.  
Mit zwölf Schlägen auf den bronzenen Gong begann die Morgenandacht. „Zwei mal zwölfhunderttausend Schritt sind wir gezogen“, begann die Geweihte des Herre Ingerimm. „Den Zwölfen gefällig“, führte der Praiot fort. „Unerschüttert Dank der Kraft der Götter“, beschwor der Rondrageweihte. „Entlang des Onkelchen Yaquir, des ewigen Geistes Almadas“, schloss die Geweihte des Efferd. „Kniet nieder, denn Segen wird Euch erteilt!“ Wie eine Haltung nehmende Armee ließen sich die Gläubigen augenblicklich in den gelb-lehmigen Staub sinken, die Augen ehrfürchtig gen Himmel gerichtet.  
   
   
''Eins und Eins und Eins und Eins sind die herrlichen Vier.''  
''Eins und Eins und Eins und Eins sind die herrlichen Vier.''  
''Der himmlische Fürst, die donnernde Gottstreiterin, der zürnende Wogenglätter, der alveranische Schmied.''
''Der himmlische Fürst, die donnernde Gottstreiterin, der zürnende Wogenglätter, der alveranische Schmied.''
''Sie alle blicken herab auf Euch, auf uns, auf Almada.''
''Sie alle blicken herab auf Euch, auf uns, auf Almada.''
''Denn sie haben für dieses Land gekämpft, für die göttergefällige Ordnung, hier und immerdar.''
''Denn sie haben für dieses Land gekämpft, für die göttergefällige Ordnung, hier und immerdar.''
''Auf Ihren Wegen schreiten wir, zu Ihrer Stätte pilgern wir.''
''Auf Ihren Wegen schreiten wir, zu Ihrer Stätte pilgern wir.''
''Und so seid erfüllt von der gleißenden und immer geltenden Wahrheit des Götterfürsten in Herz und Seele.''
''Und so seid erfüllt von der gleißenden und immer geltenden Wahrheit des Götterfürsten in Herz und Seele.''
''Vom Kampfgeist der göttlichen Leuin in Arm und Verstand.''
''Vom Kampfgeist der göttlichen Leuin in Arm und Verstand.''
''Von der Vielfalt und Launenhaftigkeit des ewigen Herrn der Brandung in Geist und Gemüt.''
''Von der Vielfalt und Launenhaftigkeit des ewigen Herrn der Brandung in Geist und Gemüt.''
''Von der feurigen Glut und Schaffenskraft des himmlischen Waffenmeisters bei all Eurem Tun.''
''Von der feurigen Glut und Schaffenskraft des himmlischen Waffenmeisters bei all Eurem Tun.''
''Praios und Rondra und Efferd und Ingerimm. Euch preisen wir. Eure Taten ehren wir.''
''Praios und Rondra und Efferd und Ingerimm. Euch preisen wir. Eure Taten ehren wir.''
''Segnet diesen Pilgerzug, segnet die Herzen Almadas, segnet seinen Fürsten und alle, die zum Wohl und Gedeih dieses Landes bestellt sind.''  
''Segnet diesen Pilgerzug, segnet die Herzen Almadas, segnet seinen Fürsten und alle, die zum Wohl und Gedeih dieses Landes bestellt sind.''  
''SO SEI ES!''
''SO SEI ES!''
   
   
„So sei es“, wiederholten die Pilgernden und erhoben sich langsam.  
„So sei es“, wiederholten die Pilgernden und erhoben sich langsam.  
„Geht nun, folget Eurem Fürsten. Denn geladen in die kaiserlichen Gärten von Cumrat seid Ihr. Mit Euch und durch Euch die Vier!“
„Geht nun, folget Eurem Fürsten. Denn geladen in die kaiserlichen Gärten von Cumrat seid Ihr. Mit Euch und durch Euch die Vier!“
Zeile 76: Zeile 92:
Und dann, leise, fast unmerklich begann der Fürst zu singen. Er stimmte ein Lied an, das niemandem gelehrt werden musste, ein Lied tief aus der Seele Almadas, das jeder kannte.  
Und dann, leise, fast unmerklich begann der Fürst zu singen. Er stimmte ein Lied an, das niemandem gelehrt werden musste, ein Lied tief aus der Seele Almadas, das jeder kannte.  
   
   
''Almada, Du bist das Land des Sonnenscheins, Almada, nur Du.''
''Almada, Du bist das Land des Sonnenscheins, Almada, nur Du.''


Einige summten bereits leise mit, als einer um den anderen in den Gesang des Fürsten einfiel, bis der gesamte Pilgerzug immer kräftig werdend den Nationalhymnus auf den Lippen trug und den Göttern und Völkern in aller Welt hinaus zu Gehör brachte. Immer und immer wieder wiederholte der Pilgerzug den Refrain des Almada-Liedes, die zornigen Strophen waren an diesem Tag vergessen. Einigen schien es gar, dass selbst ein über der Menge kreisender Rabe die Melodie mitkrächzte. Und als auch Reskalion, respektvoll hinter dem Fürsten stehend, anhob zu singen, da lächelte Gwain von Harmamund erleichtert, doch nur er wusste warum. Heute, für einmal, umgab dieses Lied eine weihevolle, friedliche und einigende Aura, denn jeder wusste wieder, was seine Verse ursprünglich zu bedeuten hatten, die da lauteten:  
Einige summten bereits leise mit, als einer um den anderen in den Gesang des Fürsten einfiel, bis der gesamte Pilgerzug immer kräftig werdend den Nationalhymnus auf den Lippen trug und den Göttern und Völkern in aller Welt hinaus zu Gehör brachte. Immer und immer wieder wiederholte der Pilgerzug den Refrain des Almada-Liedes, die zornigen Strophen waren an diesem Tag vergessen. Einigen schien es gar, dass selbst ein über der Menge kreisender Rabe die Melodie mitkrächzte. Und als auch Reskalion, respektvoll hinter dem Fürsten stehend, anhob zu singen, da lächelte Gwain von Harmamund erleichtert, doch nur er wusste warum. Heute, für einmal, umgab dieses Lied eine weihevolle, friedliche und einigende Aura, denn jeder wusste wieder, was seine Verse ursprünglich zu bedeuten hatten, die da lauteten:  
   
   
''Almada, Du bist das Land des Sonnenscheins, Almada, nur Du.''
''Almada, Du bist das Land des Sonnenscheins, Almada, nur Du.''
''Almada, Du bist das Land des süßen Weins, Almada, nur Du.''
''Almada, Du bist das Land des süßen Weins, Almada, nur Du.''
''Almada, von Deinen Trauben will ich kosten, bin für immer Dein.''
''Almada, von Deinen Trauben will ich kosten, bin für immer Dein.''
''Almada, in Deinen Armen, an Deinem Busen will ich immer sein!''
''Almada, in Deinen Armen, an Deinem Busen will ich immer sein!''
----
'''Autor:''' [[Benutzer:Von Scheffelstein|von Scheffelstein]]
"Das hat er schön gesagt, unser Fürst, nicht wahr?", sagte die junge Handelsherrin [[Birella Veracis]]. "Das mit dem Leben der Gegenwart und dass die kommenden Tage unter unserem Fürsten lebens- und liebenswert sein sollen."
[[Torquato Tournaboni]], lächelte wehmütig, während seine schlanken Finger mit den Blättern eines Rosenstrauches spielten, vorsichtig darauf bedacht, die Dornen nicht zu berühren. Für die hellroten Blüten, die an den Rändern schon ein wenig welk wurden, schien er keinen Blick zu haben.
"Wie soll denn die Gegenwart lebenswert sein, meine teure Domna Veracis, wenn die Vergangenheit so grausam war, dass ein Leben nicht ausreicht, sie zu vergessen?"
"Müssen wir denn vergessen?", fragte die junge Puninerin zurück und warf dem Ratsherrn einen Blick von der Seite zu, doch der drehte noch immer gedankenverloren die Blätter zwischen seinen Fingern. "Müssen wir uns nicht viel mehr all dessen erinnern, was zu Streit und Missgunst führte, auf dass eine solche Zeit sich nie wiederhole?"
"Wie könnt Ihr so einfach darüber hinwegkommen?", seufzte der Bankier. "Ihr habt Euren Vater verloren!" Sein Blick ging hinüber zum Musikpavillon, wo die Spielleute soeben zum [[Schalmeiensang und Lautenklang|Ragathsky-Marsch]] ansetzten. "Ich vermag nicht zu ermessen, wie schmerzlich der Verlust für Euch ist."
'Nein', dachte Birella Veracis, 'und wenn Ihr mich nicht einmal anseht, werdet Ihr es auch nicht an meinen Augen ablesen können. Und anderes auch nicht.'
"Diese Zeit unter dem falschen Kaiser", sagte Torquato Tournaboni und rupfte ein Blatt vom Rosenstrauch, "die war wie ein Unwetter, in dem so viele ihr Leben ließen, das grausam in Almada wütete und es zerstört zurückließ."
Birella Veracis betrachtete den Mann ein wenig von der Seite. Hatte ihr hoher Vater recht gehabt, der ihn für einen Träumer und Herumtreiber und Taugenichts gehalten hatte, gerade so wie Birellas Bruder, der den Kaiser verehrt und nach der Ermordung des Vaters erschreckt außer Landes geflohen war? Laut sagte sie: "Manchmal bedarf es eines Gewitters mit Blitz und Donnerschlag und Regen, der den ausgedörrten Boden tränkt und den Staub aus der Luft wäscht, damit man wieder klar zu sehen vermag und Neues wachsen und gedeihen kann. ''Um die Zukunft glor- und segensreich zu gestalten, auf dass unser Land, unser Almada wieder zu dem erblühe, das es einstmals war''", zitierte sie den Fürsten.
Torquato Tournaboni seufzte erneut und ließ die dünnen Schultern hängen. Er hatte abgenommen, trotz des Weines, dem er zuletzt vermehrt zugesprochen hatte – auch jetzt hielt er einen Kelch in der rechten –, und in den dunklen, fast schwarzen Augen, lag ein trauriger Blick. "Ihr habt gut reden, Teuerste", sagte er, "denn Ihr führt Euer Haus mit ruhiger Hand und mit äußerster Klugheit, und es steht bald besser da als zu Lebzeiten Eures hohen Vaters – und das soll etwas heißen! Ich aber habe auf die falschen Pferde gesetzt und falle immer weiter ab gegen den Albizzi."
'Kein Wunder!', dachte die junge Handelsherrin und betrachtete missgestimmt das nachlässig geschnürte Wams des langjährigen Freundes, das leicht zerzauste Haar, das mal wieder einen Barbierbesuch vertragen konnte, die ungeputzten Stiefel. Torquato Tournaboni war auf dem besten Wege, ein Mann zu werden, der zu lange dem Einfluss weiblicher Fürsorge entzogen war, dachte sie. Dumm nur, ärgerte sie sich, dass die Männer nicht verstehen wollten, dass sie ihre Leidenszeit nur noch verlängerten – bis diese ein Leben währte! –, wenn sie sich derart vernachlässigten, bis keine Frau sie mehr eines Blickes würdigte! Schade, dachte sie, denn er war doch einst ein so gutaussehender und galanter junger Herr gewesen.
Aus Gewohnheit errötete sie ein wenig bei dem Gedanken, aber auch dies entging dem Puniner Bankier, der einen Schluck aus seinem Kelch nahm – einen großen Schluck, der den Kelch leerte – und die Hand nach dem Tonkrug auf der Mauer ausstreckte, um sich nachzuschenken.
Birella Veracis hinderte die Hand daran, indem sie sie ergriff und sacht von dem Krug wegzog, näher zu sich. Überrascht sah er sie an. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag. Die Puninerin spürte, wie ihr Herz ein wenig schneller zu schlagen begann, als sie den Blick seiner Augen, der schönen, langbewimperten dunklen Augen, einfing. Doch schon senkten sich diese wieder, und der Ratsherr seufzte.
"Ihr habt so recht!", sagte er bekümmert. "Ich trinke zu viel." Und er stammelte ein wenig vor sich hin von seinem Unglück und den schweren Zeiten, die kaum leichter geworden waren, seit der Kaiser vergangen war.
Birella Veracis war sich nicht sicher, ob sie ihn lieber ohrfeigen sollte, damit er das Jammern ließ, oder ob es hilfreicher wäre, ihm die Lippen mit einem Kuss zu verschließen. Erbaulicher, dachte sie, wäre gewiss Letzteres, aber zu einfach wollte sie es ihm machen. Niemand, dachte sie, wollte einen Mann, der mit der Ergebenheit eines zu oft gescholtenen Hundes zu einem heraufsah, treu vielleicht, lieb gewiss, aber ohne Zähne, ohne eigenen Willen.
Sie betrachtete ihn eine Weile, wie er so dastand, seine Finger noch in ihrer Hand, aber kraftlos, sein Blick wieder auf die Musikanten gerichtet. Ob eine Ohrfeige vielleicht doch etwas nützte? Wann endlich brächte er den Mut auf, sie zu fragen? Jetzt, wo ihr Vater tot war, wen sollte er noch fürchten? Sie selbst etwa? Nein, wohl eher nur die Zurückweisung.
Sie seufzte nun ebenfalls, doch Selbstmitleid hatte noch nie zum Ziel geführt, dachte sie, und sie war eine tüchtige Frau, kein Mädchen mehr, nein Soberana eines der prosperierenden Handelshäuser der Capitale, wenn er blind war, dann würde eben sie ihm selbst die Augen öffnen, wenn er mutlos war, nun, dann brauchte er wohl jemanden, die ihm wieder auf die Beine half.
"Kommt", sagte sie, "wir wollen uns ein wenig im Garten umsehen! Wie oft haben wir auch Gelegenheit, die Schönheit des Augenblicks und den Frieden und die Stille zu genießen wie die hohen Damen und Herren des Königreiches? Aber der bleibt hier!" Sacht nahm sie den Kelch aus seiner Hand und stellte ihn auf die Mauer. Dann hakte sie sich bei ihm ein und führte ihn zwischen den Rosensträuchern und Rabatten hindurch in Richtung des Musikpavillons, wo die Spielleute nun zum Tanze aufspielten.
Ja, es war Zeit, aus diesem armen Tropf wieder einen gesellschaftsfähigen Mann zu machen!
{{Chronik.Ereignis|Zurück=|Chronik:Jahr=Chronik:1036|Ereignisname=[[Chronik:1036#Gwains Pilgerzug|Gwains Pilgerzug]]|Teil=Teil 01|Weiter=[[Chronik.Ereignis1036 Pilgerzug Cumrat 02|Teil 02]]}}
{{DEFAULTSORT:01}}[[Kategorie:Chronik.Ereignis1036]]